Musik für tausend Finger

Portrait des mexikanischen Komponisten Conlon Nancarrow

Film von Hanne Kaisik und Uli Aumüller

Dokumentation für den Bayerischen Rundfunk und den Westdeutschen Rundfunk 1993

Transkription

„Für mich“, sagt der Komponist György Ligeti, „ist Nancarrow einfach der bedeutendste Komponist, der heute lebt. Er hat etwas total Originelles gemacht. Etwas total Andersartiges als alle anderen Leute, auf dem höchsten Niveau, auf dem Niveau von Johann Sebastian Bach oder den späten Beethovenwerken.“
Was veranlasst Ligeti zu dieser Hymne, die weit über das übliche Kollegenlob hinausgeht? Was verbindet beide Komponisten? - Hanne Kaisik-Aumüller (Regie) und Uli Aumüller (Autor) haben den menschenscheuen Einsiedler Conlon Nancarrow (geb. 1912) in seinem mexikanischen Studio aufgesucht, um diesen Fragen nachzugehen.
Etwa 40 Jahre lang - bis zu seiner Entdeckung u.a. durch John Cage oder György Ligeti - hatte sich Nancarrow ohne das geringste Interesse an äußerer Anerkennung in seine Komponistenklause am Stadtrand von Mexiko-City zurückgezogen. Nachdem um 1940 die Aufführung einer seiner Kompositionen an der Unlust und dem technischen Unvermögen der Interpreten gescheitert war, sann er darüber nach, wie er zur Verwirklichung seiner einerseits vom Jazz, andererseits von der 12-Ton-Musik beeinflussten klanglichen und immens vertrackten rhythmischen Vorstellungen ohne Instrumentalisten auskommen könnte.
Nach fehlgeschlagenen Versuchen mit einer selbst spielenden Schlagzeugmaschine entschied er sich für ein mechanisches Klavier, ein in den 50er Jahren bereits antiquierter Vorläufer des Musikcomputers - und stanzte fortan Tag und vor allem Nachts Löcher in Papierrollen, die den pneumatischen Mechanismus des Klaviers programmieren.
Die rhythmische Exaktheit des mechanischen Klaviers ermöglichte es Nancarrow, die einzelnen Stimmen seiner polyphonen Kompositionen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sogar mit unterschiedlichen Beschleunigungen übereinander zu türmen - eine atemberaubende Polyrhythmik, die alles in den Schatten stellt, was bislang die Musikgeschichte auf diesem Gebiet vorzuweisen hat.
Im Film von Hanne Kaisik-Aumüller und Uli Aumüller erläutert Nancarrow erstmals seine Vorgehensweise beim Komponieren. Er unterteilt zuerst Zeit in schnellere und langsamere Zeitschichten, in die er dann seine melodischen Ideen einfügt. Obwohl er von der ersten Idee bis zur gestanzten Rolle an einer seiner bisher etwa 50 fertig gestellten Studien für mechanisches Klavier mehrere Monate saß, war er noch bis vor kurzem davon überzeugt, dass nach seinem Tod sich niemand für seine Musik interessieren würde - und seine Notenrollen auf dem Müll landen. Das 20. Jahrhundert hätte einen seiner bedeutendsten Komponisten einfach übersehen ....
Neben Interviews mit György Ligeti, den mexikanischen Komponisten Mario Lavista und Ana Lara, dem amerikanischen Verleger und Musikpublizisten Charles Amirkhanian, dem amerikanischen Pianisten und Komponisten Yvar Mikhashoff, Nancarrows dritter Ehefrau Yoko Nancarrow und seinem Assistenten Carlos Sandoval Mendoza, kontrastiert der Film die stille, eremitenhafte Abgeschiedenheit von Nancarrows Studio und Wohnsitz mit der multikulturellen Vielschichtigkeit und unüberschaubaren Geschäftigkeit der 20-Millionen-Megapolis Mexiko-City.

Radiosendung PDF
Radiosendung 90 min. Mp3

Hörenswert ist auch die Radiosendung, die nach unserer ersten Reise nach Mexiko über das Musikleben der Megalopolis im Allgemeinen entstand:
Un tesoro olvidado 60 min. Mp3

Das erste Interview, das wir mit Conlon Nancarrow im Juli 1991 führten, war von vielen Missverständnissen geprägt:
Interview mit Nancarrow 1991 PDF
Interview mit Nancarrow Mp3

Aussagekräftiger sind die Interviews mit György Ligeti und Jürgen Hocker. Beide datieren ebenfalls aus dem Jahr 1992:
Interview mit György Ligeti 1992 PDF
Interview mit Jürgen Hocker 1992 PDF
Interview mit György Ligeit 1992 Mp3
Interview mit Jürgen Hocker 1992 01 Mp3
Interview mit Jürgen Hocker 1992 02 Mp3
Interview mit Jürgen Hocker 1992 03 Mp3


Cast & Crew

Regie
Hanne Kaisik
Drehbuch
Uli Aumüller